Das wahre Trauma und die erfundenen Geschichten: Eine Interpretation der innerlichen Bewegungen Ilonas in Christoph Heins „Der Vergewaltigung“

Titus Tan

Christoph Heins „Die Vergewaltigung“ (1994) beschreibt eine Frau, die durch die Erfahrung der Vergewaltigung ihrer Großmutter von den Sowjetsoldaten während der Besetzung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg traumatisiert ist. Trotzdem ist sie danach so erfolgreich in einer amtlichen Karriere, dass sie eingeladen wird, die Ansprache zu einer Jugendweihe zu halten. In ihrer Ansprache rühmt sie durchaus den damaligen Beschützer Deutschlands, die Sowjetunion, ohne die Vergewaltigung zu erwähnen. Nachdem ihr Mann Jürgen fragte, warum sie absichtlich die Vergewaltigung in der Ansprache vermieden hatte, beschimpft sie ihn als einen Faschisten (Hein 131-138). Merkwürdig ist es, dass sie auf Jürgens Fragen mit so intensiven Überreaktionen reagiert. Um diesen heftigen Emotionsausbruch zu erklären, argumentiere ich, dass Ilona ihr wahres Trauma aus der Vergewaltigung mithilfe der von sich selbst erfundenen alternativen Geschichten unterdrückt.

Am Anfang berichtet Hein die allgemeine Begebenheit der Vergewaltigung:

Zwei Tage nach dem siebzehnten Geburtstag von Ilona R., Tochter eines Landarbeiters in einem Dorf östlich von Preuzlau, wurde ihre vierundsechzigjährige Großmutter im August 1945 von zwei marodierenden Soldaten der sowjetischen Streitkräfte vergewaltigt. (131)

Bemerkenswert ist der nachrichtenartige Beschreibungston mit extrem präzisen Einzelheiten, z.B. , dem genauen Datum, dem genauen Ort, den genauen Identitäten der zwei Täter. Anschauend distanziert Hein als ein gefühlloser Betrachter absichtlich von seiner menschlichen Anteilnahme zu seinen Charakteren.

Bei der Schilderung des Verlaufs der Vergewaltigung geht dieser distanzierte Beschreibungston weiter. Obwohl Hein die Gräueltat detailliert beschreiben könnte, um die Hässlichkeit der Täter und den Kummer des Opfers auszudrücken, fasst er zusammen: „Die angetrunkenen Soldaten vergewaltigten […] die Bäuerin und verließ danach das Gehöft“, als wäre die Vergewaltigung nur eine Belanglosigkeit im Verlauf ihres Marodierens (131).

Gewöhnlich nimmt man an, dass Hein diesen nachrichtlichen Beschreibungston anwendet. Indessen gibt es eine andere Hypothesenmöglichkeit: Was wäre, wenn der Erzähler nicht der Autor, sondern Ilona ist? Um ihr wahres Trauma zu unterdrücken erzählt Ilona sich eine trivialisierte alternative Geschichte als einen Ersatz für die Wahrheit, dass die Vergewaltigung zu einem ganz üblichen und gewöhnlichen Geschehen während der Kriegszeite gehört.

In der Geschichte benutzt Ilonas Großmutter ähnliche (Selbst-)Troststrategie: kurz nach der Vergewaltigung sagt sie ihren jüngeren Verwandten, „Was heult ihr dummen Küken? Hab ich mir ein Bein gebrochen?“ (Hein 132). Darin lässt es sich entdecken, dass die Trivialisierung der grausamen Wahrheiten als eine übliche Troststrategie der vom Sowjetregime unterdrückten Deutschen gilt.

Im Gegensatz dazu ist dieser Beschreibungston bei Ilonas Ansprache mit dem vorigen nachrichtlichen Beschreibungston stark kontrastiert:

Ihren Berichte beendete sie mit der Mahnung, stets die Freundschaft mit anderen Völkern zu pflegen, besonders mit jenen, die Deutschland vom Faschismus befreit hatten, damit diese finsteren Jahre der deutschen Geschichte endgültig und unwiederbringlich vorbei seien. (Hein 131)

Ersichtlich ändert Hein hierbei den Beschreibungston. Durch die Beschreibung der detaillierten Ausschnitte aus Ilonas Ansprache ist der Beschreibungston viel leidenschaftlicher als früher, um ihre Leidenschaft bei der Ansprache auszudrücken.

Es gibt zwei widersprüchliche Geschichten. Einerseits unterdrückt Ilona ihr wahres Trauma als eine Belanglosigkeit, sie überzeugt sich von der von ihr selbst erfundenen alternativen Geschichte, dass die Sowjetunion als der lobenswürdige Held Deutschland vom noch grausameren Naziregime emanzipierte, um im von der Sowjetunion unterdrückten Deutschland zu überleben. Im Bereich von Psychoanalyse heißt es Rationalisierungsverteidigungsmechanismus, der darauf ziele, mithilfe einer erdichteten Erklärung einer Angelegenheit, die leichter als die wirkliche Ursache zu akzeptieren ist, ihre Angst abzunehmen (Larsen et al. 213).[1]

Inmitten der Geschichte gibt es eine Nebengeschichte, die auf dem ersten Blick irrelevant für Ilonas Geschichte ist: Nachdem die Sowjetunion nach Deutschland kam, verbessert die Sowjetunion einerseits den Bau: „[Glückliche] Mieter waren in die fertiggestellten Wohnungen der Allee eingezogen.“ Andererseits wurde der Streik der Bauarbeiter, der einen landesweiten Aufstand auslöst, „mit der [Hilfe] sowjetischer Panzer beendet“ (Hein 134). Selbstverständlich meint Hein das ironisch. Aus diesen zwei gegensätzlichen Haltungen über den neuen Bau ist Ilonas widersprüchliche Geschichten auch zu sehen. Die folgenden Beschreibungen beweisen es:

[…D]as Leben ging seinen Gang in dieser [schönen und grimmigen] Welt, und die Zeitungen des Landes [berichteten von der schönen Welt] und [schweigen über die grimmige]. (Hein 131)

Aber nicht alle Deutschen verwenden den Rationalisierungsverteidigungsmechanismus. Ein Beispiel dafür ist Ilonas Mann Jürgen. Nach der Ansprache fragt er Ilona, warum sie nur die positive Seite der Wahrheit hervorhebt, und gleichzeitig mühsam die andere mit der folgenden alternativen Geschichte überdeckt, die gerade das Gegenteil des Marodierens und der Vergewaltigung ist:

Sie erzählte, daß sie selbst als junges Mädchen von den Soldaten häufig etwas Eßbares zugesteckt bekommen habe und daß ihre Großmutter, als diese bei der Stallarbeit von einer Kuh unglücklich getreten würde, vom Kommandanten

persönlich ins Prenzßlauer Krankenhaus gefahren worden sei. (Hein 131)

Erregt beharrt Ilona darauf, es sei alles die Wahrheit (Hein 137). Aber diese Wahrheit ist offenbar einseitig. Dennoch geht es leichter, dass sie sich selbst mit einer einseitigen Wahrheit überzeugt, als mit einer durchaus Lüge.

Nachdem ihr Mann sie fortwährend fragt, erwidert Ilona, sie könne nicht den Kindern die entsetzliche Vergewaltigung erzählen, besonders an diesem festlichen Tag (Hein 137). Aber ihr Mann weiß, dass es nicht ihr wirklicher Grund ist. Sie erdichtet sofort einen scheinbar vernünftigen alternativen Grund, um sich selbst zeitweilig zu trösten. Aber ihr Mann enthüllt ihre Selbstlügen weiter, „[…] aber dann hättest du das andere auch nicht erzählen müssen“ (Hein 137).

In diesem Punkt kann Ilona es nicht mehr aufhalten, psychologisch zusammenzubrechen. Nach einer Reihe von Überreaktionen (das Körperzittern, das Weinen, und das Zerschellen eines Glases) beschimpft sie ihren Mann als einen Faschisten (Hein 138). Vielleicht sollte Jürgen beschuldigt werden, weil er Ilona hartnäckig auffordert, dass sie ihr Trauma direkt konfrontiert. Dennoch ist er nicht so hässlich, dass er einen Titel als Faschist verdient. Aber warum beschimpft Ilona ihren Mann als Faschist, besonders unter der Bedingung, dass sie noch weiß, dass ihr Mann es tut, weil er sich wirklich um sie sorgt?

Um diesen Mythos zu erklären sollte eine ihrer alternativen Geschichten genauer analysiert werden. Durch die Ansprache zeigt sie den Jugendlichen diese Geschichte. Sie beginnt damit:

Sie berichtete, wie sie als Halbwüchsige die Niederlage der deutschen Wehrmacht erlebt hatte, vom Einmarsch der Sowjetsoldaten in ihrem Dorf und von der Erleichterung der Bauern , daß die Jahre der Nazibarbarei endlich vorbei waren. (Hein 135)

Durch diese Erzählung lässt es sich entdecken, dass Ilona die Sowjetsoldaten als die Helden gegen die Nazibarbarei positioniert. Damals war diese Denkweise, die den Kommunismus als das Gegenteil des Faschismus präsentiert, nicht ohne Präzedenzfall. Zum Beispiel beschreibt Bertolt Brecht in seinem Gedicht „O Deutschland, bleiche Mutter“ (1933) die Nationalsozialisten als die bösen Söhne, die Deutschland „besudelte, erschlagen, beschuldigt, zugerichtet“ und die Kommunisten als die guten, deren Hände gegen den Nationalsozialisten erheben. Daraus lässt es entdecken, dass diese Denkweise schon vor der Sowjetbesetzung existiert hatte.

Laut dieser einfachen antagonistischen Denkweise ist jeder Gegner des Sowjetregimes ein Faschist. Es bedeutet jedoch nicht, dass Ilona diese Denkweise vollkommen annimmt. Stattdessen gerät sie in ein psychologisches Durcheinander. In diesem Durcheinander ist sie nicht in der Lage, richtig zu denken. Deshalb wendet sie sich an diese einfache Denkweise. Aber diese selbstlügende Denkweise hilft ihr an diesem Punkt nicht mehr, weshalb sie diesmal ihren emotionellen Ausbruch überhaupt nicht kontrollieren kann.

Nach meiner Analyse dieser Erzählung sind die widersprüchlichen Geschichten Ilonas offensichtlich: Ilona wendet sich an den Rationalisierungsverteidigungsmechanismus, um ihr von der Erfahrung der Vergewaltigung entstandenes Trauma mithilfe der von ihr selbst erfundenen alternativen Geschichten zu unterdrücken. Diese Geschichten heben ausschließlich die positive Seite des Sowjetregimes hervor, um im vom Sowjetregime unterdrückten Deutschland zu überleben: Die Sowjetsoldaten haben nicht nur die Nazis aus Deutschland weggetrieben, sondern auch die verletzen Deutschen ins glückliche Leben gebracht. In einer einfachen Denkweise, Kommunismus gegen Faschismus, gehören alle Gegner des Sowjetregimes zu den Faschisten. Infolgedessen beschimpft Ilona ihren Mann als einen Faschisten, nachdem er von ihr fordert, ihren Selbstbetrug zu konfrontieren.

[1] Das originelle Zitat auf Englisch: [… T]he Goal is to reduce anxiety by coming up with an explanation for an event that is easier to accept than the real reason (Larsen et al. 213).

Zitierte Werke

Brecht, Bertolt. „O Deutschland, bleiche Mutter“ (Dicht). 1933. http://www.tenhumbergreinhard.de/taeter-und-mitlaeufer/lieder-und-gedichte/o-deutschland-bleiche-mutter.html

Hein, Christoph. „Die Vergewaltigung“. Exekution eines Kalbes und andere Erzählungen, Aufbau Verlag, Berlin, 1994, Seite 131-138.

Larsen, Randy J. et al.. „Psychoanalytische Methode zur Persönlichkeit: Die Dynamik der Persönlichkeit: Die Verteidigungsmechanismen: Rationalisierung“ innerhalb des neunten Kapitels, „Das intrapsychische Reich“ (“Psychoanalytic Approaches to Personality: Dynamics of Personality: Defense Mechanisms: Rationalisation” inside “Chapter 9: Intrapyschic Domain”). Die Psychologie der Persönlichkeit: die Reiche der Wissen über die menschliche Natur (auf Englisch) (Personality Psychology: Domains of Knowledge about Human Nature), erste Auflage, McGraw Hill Education, Transcontinental Printing Group, 2017, Seite 213.

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